\magnification \magstep1 \catcode`\ä=\active\catcode`\ö=\active\catcode`\ü=\active\catcode`\Ä=\active \catcode`\Ö=\active\catcode`\Ü=\active\catcode`\ß=\active \gdefä{\"a}\gdefö{\"o}\gdefü{\"u}\gdefÄ{\"A}\gdefÖ{\"O}\gdefÜ{\"U}\gdefß{\ss} \parskip=1ex \parindent=0pt \nopagenumbers \font\tf=cmbx12 \advance\vsize by 1cm \line{\tf Das Bayes-Theorem\hss \sl GLF von Christian Neukirchen} \rightline{\sl Juni 2005} \beginsection 1. Bedingte Wahrscheinlichkeiten Als {\sl bedingte Wahrscheinlichkeit} definieren wir die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses A unter der Bedingung, dass ein Ereignis B bereits eingetreten ist. Wir schreiben $$p(A|B)$$ und lesen: $$\hbox{A {\sl unter der Bedingung} B\qquad oder\qquad A {\sl gegeben} B}$$ {\bf Wichtig:} Die bedingte Wahrscheinlichkeit $p(A|B)$ darf nicht mit der Verbundwahrscheinlichkeit $p(A\cap B)$ (lies: A {\sl und} B) verwechselt werden! Desweiteren stellen $p(A|B)$ und $p(B|A)$ unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten dar; es macht einen Unterschied, ob wir ins Kino gehen, wenn es regnet, oder ob es regnet, wenn wir ins Kino gehen. \beginsection 2. Das Bayes-Theorem Das Bayes-Theorem (benannt nach Reverend Thomas Bayes (1702--1761), ursprünglich erwähnt in seinem Essay ``An Essay towards solving a Problem in the Doctrine of Chances'', 1763) erlaubt das Rechnen mit bedingten Wahrscheinlichkeiten, und besonders die Um\-kehr\-ung von Schluss\-folgerungen. Üblicherweise wird das Bayes-Theorem wie folgt angegeben: $$p(A|B) = {{p(A) \cdot p(B|A)} \over {p(A) \cdot p(B|A) + p(\bar A) \cdot p(B|\bar A) }}$$ Diese recht komplizierte Darstellung kann leicht auf eine einfach merkbare Formel zu\-rück\-ge\-führt werden: $$p(A|B) \cdot p(B) = p(B|A) \cdot p(A)$$ Beweis der Äquivalenz beider Formeln: \setbox23\vbox{ $$\eqalign{% p(B) &= p(B) \cdot 1 \cr &= p(B) \cdot ( p(A|B) + p(\bar A|B)) \cr &= p(A|B) \cdot p(B) + p(\bar A|B) \cdot p(B)) \cr &= p(B|A) \cdot p(A) + p(B|\bar A) \cdot p(\bar A)}$$ \bigskip\bigskip} \setbox24\vbox{ $$\eqalign{% p(A|B) \cdot p(B) & = p(B|A) \cdot p(A) \cr \Leftrightarrow\qquad p(A|B) & = {{p(A) \cdot p(B|A)} \over p(B)} \cr \Leftrightarrow\qquad p(A|B) & = {{p(A) \cdot p(B|A)} \over {p(A) \cdot p(B|A) + p(\bar A) \cdot p(B|\bar A)}}}$$} {\hfuzz=200pt $$\hbox{\hskip-0.275\hsize\box23\hskip-0.475\hsize\box24}$$} \beginsection 3. Beispiel Das Riesenrad am Schützenfest verwendet, um Geld zu sparen, nur zu 60\% Marken-Glühbirnen. 5\% der Marken-Glühbirnen und 10\% der Billig-Glühbirnen sind durchgebrannt. Angenommen, man finde eine durchgebrannte Glühbirne; wie wahrscheinlich war sie eine Markenglühbirne? $$\eqalign{% p(M) &= 0.6\cr p(D|M) &= 0.05\cr p(D|\bar M) &= 0.1\cr p(M|D) &=\quad ?}$$ $$\eqalign{% p(M|D) &= {{p(M) \cdot p(D|M)} \over {p(M) \cdot p(D|M) + p(\bar M) \cdot p(D|\bar M)}}\cr &= {{0.6 \cdot 0.05} \over {0.6 \cdot 0.05 + 0.4 \cdot 0.1}} = {0.03 \over 0.07} = 0.429 } $$ Die Wahrscheinlichkeit, dass die durchgebrannte Birne also eine Markenglühbirne war, ist 42.9\%. \beginsection 4. Anwendung Das Bayes-Theorem wird oft in der Wissenschaft verwendet, beispielsweise in der Auswertung von medizinischen Tests. Es ist die Grundlage für das Rechnen mit bedingten Wahrscheinlichkeiten, die in der Praxis und Forschung häufig auftreten. Ein weiteres erfolgreiches Einsatzgebiet des Bayes-Theorems stellt die Verwendung von Bayes-Filtern zur Textkategorisierung dar; als prominentestes Beispiel seien Spamfilter genannt (siehe Paul Graham, ``A Plan For Spam'', 2002). \beginsection 5. Fazit Das Bayes-Theorem ist als komplex und unintuitiv verschrien; das Fehlen der Intuitivität ist jedoch auf die Ungewohntheit mit der Vorstellung bedingter Wahrscheinlichkeiten (siehe W. Casscells, A. Schoenberger, und T. Grayboys, "Interpretation by physicians of clinical laboratory results.", 1978 und Gerd Gigerenzer und Ulrich Hoffrage "How to improve Bayesian reasoning without instruction: Frequency formats.", 1995) und einer für Uneingeweihte ungeeignete Darstellung zurückzuführen. Ich hoffe, dass das Bayes-Theorem durch die von mir vorgestellte Vereinfachung, die dessen Symmetrie leicht erkennen lässt, dem Publikum ein Stück nähergebracht wurde und die Wichtigkeit dieses mathematischen Satzes ins Licht gerückt wurde. \bye